Von Jan Mohnhaupt
Den linken Schuh zieht er immer zuerst an, dann den rechten, das ist sein festes Ritual. So macht es Michael Tönnies auch am 16. Juni 1991, bevor er die Katakomben des Wedaustadions verlässt und hinaus auf den Rasen trabt. Draußen warten 27.000 Menschen im Grunde nur darauf, dass dieses Spiel endlich vorbei ist. Denn dieses eine Spiel trennt sie noch von der Rückkehr in die 1. Bundesliga.
Neun Jahre ist es her, dass der MSV Duisburg aus der ersten Liga abgestiegen ist. Bis in den Amateurfußball ging es danach hinab. Dass die Meidericher wieder zurück sind, liegt zum Großteil auch an ihm, Michael Tönnies. Für ihn ist es schon zehn Jahre her, dass er zuletzt in der Bundesliga gespielt hat. Damals war er noch ein vielversprechendes Talent beim FC Schalke 04. Eine große Zukunft stand ihm bevor. Doch bei den Schalkern kam er nicht an Nationalspieler Klaus Fischer vorbei. Anstatt zu kämpfen, gab er sich mit der Reservistenrolle zufrieden. Während andere nach dem Training Zusatzschichten schoben, war er längst geduscht und auf dem Weg in die nächste Kneipe oder Spielothek. Statt sich durchzusetzen, zog er weiter. Nach Bayreuth, Bocholt und zurück ins heimische Essen.
Als er 1986 mit fast 27 Jahren zum MSV Duisburg kam, galt er als gescheitert. Doch das ewige Talent und der gefallene Traditionsklub passten zusammen. „Der Dicke“ nannten sie ihn in Duisburg. Oder auch: „Tornado“. Dass das kein Widerspruch war, wissen all jene, die ihn spielen sahen. Mit seinen Toren schoss er den Spielverein zurück nach oben.
Am 16. Juni 1991 müssen die Duisburger Fans lange zittern. Ihre Mannschaft wirkt gehemmt, mehrmals gerät sie fast in Rückstand. Irgendwann hält es die Menschen nicht mehr auf den Rängen. Sie klettern über die Absperrgitter und strömen auf die Tartanbahn. Zu Tausenden säumen sie das Spielfeld. Von dort sehen sie, wie Michael Struckmann in der 86. Minute den Ball an der Mittellinie abfängt, übers halbe Feld kontert und dann auf den mitgelaufenen Michael Tönnies querlegt, der nur noch seinen linken Fuß hinhalten muss. Mitten hinein, ins Tor und in die Herzen.
Jetzt gibt es kein Halten mehr. Die Massen stürmen den Rasen und fallen ihnen um den Hals.
Diese Saison ist seine Saison gewesen. 35 Tore hat Michael Tönnies geschossen. 29 in der zweiten Liga und sechs im DFB-Pokal, wo der MSV bis ins Halbfinale vorgedrungen ist. Kein anderer Stürmer im deutschen Profifußball hat so oft getroffen wie er. Und nun ist er wieder da, wo einer wie er hingehört.
Einer wie er, sagen die, die mit ihm zusammengespielt haben, müsste eigentlich 400 Erstligaspiele absolviert haben. Am Ende seiner Karriere werden es gerade einmal 40 gewesen sein. 40 oder 400 – liegt im Falle von Michael Tönnies der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit in einer Null?
Warum es nicht zur großen Profikarriere kam, lässt sich auf verschiedene Weisen erklären. Die erste lautet: Wenn er weniger geraucht, gesoffen gezockt und dafür mehr trainiert hätte, wäre er Nationalspieler geworden. Die zweite: Trotz seines Lebenswandels hat er es in die Bundesliga geschafft – was zeigt, wie talentiert er war. Die dritte Erklärung stammt von Michael Tönnies selbst: Ich habe den Fußball zu lange als Hobby angesehen. Ob nun außergewöhnliches Talent oder mangelnde Einstellung im Vordergrund stehen – eines ist klar: Michael Tönnies hat eine Karriere gehabt, wie es sie im heutigen Profifußball nicht mehr gibt. Ein Angebot des FC Bayern München lehnte er ab, da er seine Heimat, das Ruhrgebiet, nicht verlassen wollte, und er es sich nicht zutraute. Ohne die verpassten Chancen wäre er wohl jedoch nie in Duisburg gelandet.
In die Geschichte der Bundesliga ist er dennoch eingegangen: Am 27. August 1991 schießt er beim 6:2-Sieg des MSV gegen den Karlsruher SC fünf Tore – drei davon innerhalb von fünf Minuten. Für fast ein Vierteljahrhundert sollte es der schnellste Hattrick der Bundesliga bleiben.
Nach dem Abstieg im Sommer 1992 verließ Michael Tönnies den MSV für lange Zeit. Getroffen hatte er in seinen sechs Jahren beim MSV wie kaum einer vor ihm. 101 Tore erzielte er in der Oberliga, der zweiten und ersten Bundesliga für die Zebras. Im August 2011, rund 15 Jahre nach seinem Karriereende, traf er noch einmal, ohne Absicht und nicht mit seinen Füßen, sondern mit seinen Worten in einem Interview.
Darin ging es um das, was einmal war, vor allem aber darum, was noch kommen sollte. Allzu viel erwartete sich Michael Tönnies nicht mehr vom Leben. Er war sterbenskrank, jeder Atemzug eine Qual. Nur eine Lungentransplantation könne ihn noch retten, sagte er. Doch er hatte die Hoffnung längst aufgegeben.
„Wieviel Zeit bleibt Ihnen noch?“, wurde er gefragt.
„So werde ich keine 60 mehr“, sagte der damals 51-Jährige.
Was danach geschah, sucht bis heute wohl Vergleichbares. Zahlreiche MSV-Fans gestalteten für ihn ein Album. Darin schrieben sie von ihren Erinnerungen. Vom Aufstieg 1991. Vom Hattrick. Davon, dass sie als Kinder sein wollten wie er. Der massenhafte Zuspruch sorgte dafür, dass Michael Tönnies bald darauf beschloss, sich doch für die lebensrettende Transplantation listen zu lassen.
Einst war er ihr Mutmacher gewesen.
Mit jedem seiner Tore hatten sie mehr Mut geschöpft, dass es eines Tages besser werde. Mit ihm hatte Duisburg träumen dürfen. Nun waren es die Fans des MSV, seine Fans, die ihm neuen Lebensmut gaben.
Nach seinem Entschluss zur Transplantation folgte zunächst eine Zeit voller Hoffnung, Untersuchungen und Rückschläge. Im April 2013 bekam er endlich eine neue Lunge und damit ein „zweites Leben“, wie er es nannte. Doch am Tag, an dem er zurück nach Hause kam, ereilte ihn erneut eine schlechte Nachricht: Der MSV Duisburg hatte keine Lizenz für die 2. Bundesliga bekommen und stand vor dem Sturz in den Amateurfußball.
Der Verein war wieder dort, wo er schon einmal war. Damals, als Michael Tönnies nach Duisburg kam. Er wollte etwas zurückgeben. So wurde zum Stadionsprecher. Vor jedem Heimspiel intonierte er mit den Fans die Mannschaftsaufstellung.
„Danke!“, rief er ihnen zum Schluss zu.
„Bitte!“, schallte es ihm aus Tausenden Kehlen entgegen.
Es war kein abgedroschenes Ritual. Hier dankte ein alter Fußballer seinen Fans, die ihn vor dem Tod bewahrt hatten.
Das Schicksal keines anderen Spielers ist so eng mit den Fans des MSV verbunden wie seines. Da war diese intime Nähe zwischen ihm auf dem Rasen und ihnen auf den Rängen. Und diese Nähe kostete er bei jedem Heimspiel bis zum Schluss aus. Zehn Minuten vor dem Abpfiff verließ er die Sprecherkabine und machte sich langsam auf den Weg, die Treppen hinab und unter der Gegentribüne hindurch.
Am Spielfeldrand angelangt, stellte er sich vor den Fanblock. Das Spielfeld vor Augen, ihre Schreie und Gesänge im Rücken. Meist schaute er auf den Rasen, doch ab und zu drehte er sich um und ließ seinen Blick über die Ränge schweifen. Hinauf zu denen, die ihm wieder aufgeholfen hatten und noch immer zu ihm aufschauten. Michael Tönnies war nicht nur einer der größten Stürmer, die je in Zebrastreifen aufliefen. Er war auch und vor allem ein Fan der MSV-Fans.
Trotz allem ist Michael Tönnies keine 60 Jahre alt geworden.
Er starb plötzlich und unerwartet im Januar 2017 mit 57 Jahren. Doch der Zuspruch der Fans hat ihm vier Jahre geschenkt, in denen er sein Leben genoss, wie er es lange nicht mehr getan hatte. Vier richtig geile Jahre, hätte er dazu gesagt. Wie auch immer das Schicksal des MSV Duisburg verlaufen wird – dieser Ort erinnert daran, dass die Fans des MSV einmal etwas gerettet haben, das kostbarer ist als alle Tore und Titel.
Geboren am 19. Dezember 1959 in Essen.
Gestorben am 26. Januar 2017 in Essen.
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